„Nachbilder, jene Gaukeleien der Netzhaut, sind real existierende optische, physiologische Phänomene. Selten allerdings werden sie bewusst registriert werden. Sie gehören jedoch untrennbar zur visuellen Wahrnehmungsleistung – und prägen unser sinnliches Erleben über das tatsächlich sichtbare Angebot hinaus. Das Nachbild ereignet sich gleichsam im Zwischenraum von Bild und Bild. Die Existenz von Nachbildern und vor allem deren systematische Untersuchung haben die visuelle Kultur der Moderne entscheidend beeinflusst. [1]
Das 19. Jahrhundert war das Labor, wo – in einer turbulenten Grauzone zwischen Spiel und Experiment – die entsprechenden Pioniertaten stattfanden. 1827 setzte Charles Wheatstone sein Kaleidophon, das bereits optische Reize mit akustischen sowie physikalischen Vorgängen koppelte. Das Thaumatrop oder ‚Wunderscheibe‘ genannt und um 1825 von John Paris entwickelt, war eine Art ‚Spielzeug, das auf dem Prinzip der Nachbildwirkung (Persistenz) beruht. Durch rotierende Bewegung verschmelzen die Bilder der Vorder- und Rückseite.‘ [2]
Und schließlich erfand 1832 der belgische Physiker Joseph Plateau (1801-1883) das so genannte Phénakistiskop, das genau mit jenem Effekt der Nachbilder operierte und erste bewegte Bildsequenzen produzierte.
All das waren ‚Spielzeuge, die wissenschaftliche Ereignisse demonstrierten und Anlaß zu philosophischen Fragen gaben.‘ [3]: so genannte ‚philosophical toys‘. Dieses Grundanliegen, nämlich die Verbindung des spielerischen Aspektes mit einem welterklärenden Gestus lässt fast ungebrochen auf zahlreiche Arbeiten von Roland Fuhrmann beziehen. Seine Gestaltungen zitieren oder simulieren gern historische Erfindungen und evozieren damit frühwissenschaftliche Experimente, nun gefüllt mit zeitgenössischen Inhalten. [4]
Roland Fuhrmann rührt damit an anthropologische Konstanten von Spieltrieb und Wissbegier. Wenn sich auch, wie u.a. Horst Bredekamp festgestellt hat, die vorwissenschaftliche Einheit beider Tendenzen in einem ehedem techne-nahen Kunstbegriff bereits im 18. Jahrhundert auflöste, ist diese „Spaltung nicht nur als Gewinn an Autonomie, sondern auch als Verlust“ empfunden worden – „von seiten der Kunst als Verzicht auf Verantwortlichkeit und ‚Leben’, von seiten der Technik als Preisgabe von Freiheit und Spiel.“ [5]
In diesem angenommenen Sehnsuchtsvakuum funktionieren nun die mechanischen Allegorien von Roland Fuhrmann. Der Künstler als hintersinniger Bastler kultiviert bewusst anachronistische Züge, selbst wenn er jüngste technologische errungenschaften verdeckt mit einbezieht. Fuhrmanns Apparate rühren generell auch an dem menschlichen Trieb, hinter die Geheimnisse von Motorik zu kommen, die im kindlichen Stadium noch live zu beobachten sind – etwa in der gnadenlos neugierigen Zerlegung einer Laufpuppe. Nun feiert ja die wissenschaftliche koordinierte Konstruktion von Bewegung derzeit mit der Entwicklung von u.a. digital gesteuerten Körperprothesen höchste
medizinische Erfolge, ist aber als Impuls schließlich immer noch mit dem Bau von menschgestaltigen Schreib- oder Schachautomaten im 18. Jahrhundert zu vergleichen. Als Künstler und im Sinne seines Anliegens kann es sich Roland Fuhrmann natürlich leisten, technologisch avancierte Lösungen schlicht zu ignorieren und um Jahrhunderte zurückzuspringen, sowohl mit kinetischen Objekten wie auch seinen kinästhetischen Inszenierungen. Für letztere stehen besonders die Bildfolgen ‚Prayer Wheel‘ (Gebetsmühle, 2004) wie „Fahneneid“ (2005). Beide beruhen auf Frühformen des bewegten Bildes – hier wirkte das genannte Phénakistiskop als Inspiration. Im Übrigen sind derlei aktive Rückgriffe auf frühe bildgebende Verfahren keine Novität im Schaffen von Roland Fuhrmann, beschäftigt er sich doch bereits viele Jahre mit Stereofotografie. [6] Die mit diesem Medium erzeugte ästhetische Distanz zu den aufgenommenen aktuellen Motiven führt zu einer seltsamen nostalgischen Spannung – in etwa vergleichbar mit dem Blick eines Anthropologen auf eine fremde, anziehende Kultur, die in Fuhrmanns Falle unsere Gegenwart bedeutet. Doch zurück zum Phénakistiskop.
Schließlich hat dieses Instrument im 19. Jahrhundert fundamentale Veränderungen der Wahrnehmung (und ihrer Manipulation) mit herbeigeführt: die Moderne nach der Camera Obscura – physiologische Vorgänge des Subjekts wurden plötzlich mit in visuelle Reizmomente einkalkuliert. Das Subjekt wurde zum bewussten Mitproduzent des Eindrucks, denn retinale Nachbilder ergänzten die Lücken zwischen dem grafischen Bildmaterial auf einer rotierenden Scheibe zu einem filmischen Eindruck.
Auf diese Ergänzungsleistung, auf diese Position des Betrachters bauen Roland Fuhrmanns Arbeiten vielfach auf – auch im Sinne geistiger Komplettierungen, die über optische Spielereien hinausgehen und eine allegorische Leistung beinhalten. Sie spielen sich parallel zu bzw. zwischen den mechanischen Eindrücken ab – im Falle des ‚Prayer Wheel‘ oder ‚Fahneneid‘ genauso wie in dem der sechs ineinander greifenden Förderbänder von ‚Valuta‘ (2006). Hier läuft der absurde – auf keinerlei Gegenwert bezogene – Münzfluss von „100 kg Weltgeld“ als ebenso simpler wie einprägsamer Kreislauf am Betrachter vorüber und hinterlässt ein deutliches mentales Nachbild und kann damit durchaus an die frühen Meister des mechanischen bewegten Bildes wie Monsieur Plateau erinnern, wenn die auch von rein optischen Phänomenen und deren Dauer, gestaffelt nach Farbwirkungen, umgetrieben waren. Roland Fuhrmann seinerseits verlängert die Spanne unserer Aufmerksamkeit: seine Nachbilder wirken noch, wenn der Strom schon längst abgeschaltet wurde. Das ‚Schnelle Museum‘ von 2004 benutzt die Nachbildwerkung direkt – Reproduktionen berühmter Gemälde drehen sich so rasch, dass die Trägheit des Auges eine Identifikation verbietet und höchstens das Farbklima des betreffenden Bildes in Form konzentrischer Kreise erspürt werden kann. Wenn sich dann für einen Sekundenbruchteil – ausgelöst durch einen unerwarteten Lichtblitz – das Motiv doch enthüllt, dann handelt es sich (wir ahnen es) keinesfalls um den direkten optischen Eindruck, sondern um ein Nachbild. Die Scheibe hatte sich weitergedreht, noch bevor unser Hirn den Reiz überhaupt verarbeiten konnte.
Am ‚Schnellen Museum‘ – als leichtfüßigem, ironischen Kommentar zur Erfolgseuphorie um das Berliner Gastspiel des Museums of Modern Art – lassen sich übrigens recht gut Parallelen zwischen Roland Fuhrmanns Strategien und denen von Via Lewandowsky ablesen. Dessen prägnante Effektskulpturen – ob mechanisch aufgepeppt oder nicht – benennt der drei Jahre jüngere und ebenfalls aus Dresden gebürtige Roland Fuhrmann gerne als Inspirationen.
Unübersehbar in den meisten bislang genannten Arbeiten ist die Schlüsselrolle der zyklischen Wiederholung und damit die der Rotation. Ihre über die mechanische hinausreichende sinnbildliche Qualität wird zu einem entscheidenden (Dreh)Moment in den Arbeiten von Roland Fuhrmann, eindrucksvoll und schließlich auch meditativ verbildlicht in dem komisch-sinnlosen Szenario von ‚Stausi 1, Simulator für Verkehrsstau‘ (2004). Die scheinbar endlose Wiederkehr des Gleichen erhebt in Fuhrmanns Interpretation metaphorische und metaphysische Ansprüche und bleibt damit ganz auf der Linie – pardon: im Loop mit den frühen „philosophical toys“ und deren unermüdlicher serieller Bildproduktion.
Die einst damit verbundenen Wiegenlieder der Animation; die Sehnsucht, Bilder in Bewegung zu versetzen, diskutiert ausführlich Jonathan Crary in seinem Aufsatz ‚The Techniques of the Observer‘ [7] im Bezug auf frühe (manuelle) Mechaniken. Diese Bildapparate des 19. Jahrhunderts traten die legitime Nachfolge jener Automaten und Kunstuhren an, die in der vormusealen Wunderkammer den Besucher das Staunen lehrten – in einer Verschmelzung von Spiel und Wissenschaft. Die Kunstuhr der Renaissance per se – ob die astronomische des Straßburger Münsters (1574) oder die Dresdner Kugellaufuhr (1602)– bildet den Höhepunkt der der damals so populären funktional-ästhetischen Synthese. Diese Uhren setzten kosmologische oder historische Zusammenhänge in Szene und waren Gleichnisse für die universellen Interessen der Renaissance. Wenig überraschend, haben es Roland Fuhrmann daher die komplexen Mechaniken von Uhrwerken, die Idee des Zeitmessers schon lange angetan und auch hier verharrt er mit der Materialisation der Kunstwerke nicht auf der Stufe einer bloßen Technikfaszination, sondern erkennt und verwendet die Symbolfunktion dieser Maschinen, die zum Zeitpunkt ihrer Erfindung das Verrinnen der Zeit eben nicht nur maßen, sondern auch auf einem eschatalogischen Niveau versinnbildlichten. Die Sanduhr Fuhrmanns beispielsweise trägt diesen Aspekt bereits im Titel: ‚Memento(Mo)tori‘ (2003) wie auch in ihrer materialisierten Metaphorik. Das Stundenglas, das ja eigentlich die Endlichkeit menschlicher Lebenszeit symbolisiert, wird hier durch eine Laserautomatik erbarmungslos am Laufen gehalten: Anti Aging und Timothy Leary in der Kühltruhe lassen grüßen.
Ein weiteres Uhrobjekt, das den Verständniswandel des Begriffs Zeit thematisiert, ist die (sogar auf dem Patentamt als Gebrauchsmuster registrierte) ‚Wochenenduhr‘ von 2005, mit sehr offensichtlichem Gegenwartsbezug. ‚Dank der Wochenenduhr‘ so der Künstler selbst ‚wird am Wochenende nicht mehr durchgearbeitet. Freiberufler und Manager finden zu ausgeglichener Lebensweise mit Familienleben und Sozialkontakten zurück. Das Kunstglasrohr bleibt die Woche über dunkel. Nur Freitagabend bis Sonntagnacht leuchtet das Wochenende mit Funkuhrgenauigkeit in Karibik-Blau.‘
In dieser bonmothaften Kürze leuchtet gleichzeitig Roland Fuhrmanns Fähigkeit auf, sich dem bemühten Tiefgang gesellschaftskritischer künstlerischer Kommentare auch bisweilen ganz zu verweigern und sich anstelle von zusätzlichen Deutungsebenen auf ein humorvolles Aufblitzen zu verlassen. Eine Haltung, die der Idee des „philosophical toy“ durchaus treu bleibt und der des retinalen wie auch mentalen Nachbilds sowieso.“ Susanne Altmann
[1] Ich beziehe mich hier auf die Theorien von Jonathan Crary. Vgl. Jonathan Crary, Techniques of the Observer, in: ders., Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge/London 1992, S.97 ff.
[2] http://www.wernernekes.de, Auf seiner Webseite veröffentlicht der Sammler und Filmemacher Werner Nekes seine Kollektion früher bildgebender Apparaturen sowie ein umfangreiches Glossar zu präkinematografischen Entwicklungen.
[3] Joseph Wachelder, „Nachbilder, Natur und Wahrnehmung: Die frühen optischen Untersuchungen von Joseph Plateau“ in: Gabriele Dürbeck e.a. (Hrsg,), „Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800“, Dresden 2001, S.S.255.
[4] Einen derartige Strategie der Kontinutität beschreibt Bazon Brock in seiner Würdigung für Werner Nekes als gewinnbringend, wenn auch an dieser Stelle nicht explizit auf die genannte Apparate bezogen. Diese nehmen jedoch konsequenterweise eine Mittlerposition ein – zumal es um die einschlägige Sammlung Nekes geht.: „Aber Bildgebungsverfahren der neuen Medien erschlossen die Besonderheit, die spezifische Leistung der „alten“ Medien: Foto / Film eröffneten den Zugang zu den genuinen Leistungen von Tafelbildmalerei, Bilderzählung im Historien- oder Ereignisbild, im Stilleben, im Deckenfresko. Dem entspricht McLuhan’s Diktum, daß die Inhalte neuer Medien aus der Erörterung der spezifischen Leistungen der alten Medienerwachsen.“ In: Bazon Brock, Werner Nekes stiftet Mediengeschichte – Zur Korrektur des heutigen Medienwahns, www.wernernekes.de/retro_haupt.htm.
[5] Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S.96.
[6] Auch das Betrachtungsgerät Stereoskop wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und zwar 1849 von David Brewster – im unmittelbaren Umfeld von Daguerreotypie und Fotografie.
[7] Jonathan Crary, dto., S.102 ff.