ROXANE LATRÈCHE (L) : Viele Ihrer Werke sind öffentlich zugänglich. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Kunst im öffentlichen Raum und Kunst im Architekturkontext zu beschäftigen?
ROLAND FUHRMANN (F) : Die erste permanente Kunstinstallation in situ realisierte ich schon als Student in einem Bürogebäude in Halle. 17 Meter hoch durchbohrt die kinetische Installation Lichtbegegnung das gesamte Bürogebäude vertikal und überwindet Hierarchien, von der Tiefgarage bis in die Chefetage. Inzwischen dominieren ortsspezifische Arbeiten mein künstlerisches Schaffen. Haushohe Installationen, 60 Meter lange oder 6 Meter hohe tonnenschwere Landschaftsskulpturen gehören ebenso dazu wie winzige Objektminiaturen, die den Raum kinetisch und akustisch durchdringen. Kunst am Bau bietet mir eine große räumliche Freiheit, erlaubt das Arbeiten in ganz anderen Dimensionen. Aber der interessanteste Punkt an Kunst im öffentlichen Raum ist ihre offene, freie Zugänglichkeit für alle. Es ist die demokratische Idee des ‚Nichtmusealen‘, die alltägliche und unmittelbare Konfrontation und Kommunikation mit einem Publikum, das zufällig über die Kunst stolpert, mit ihr interagiert und von ihr erobert werden will.1
L : Sie wuchsen in Dresden auf. Inwieweit und wie fließen Ihre ostdeutsche Herkunft und Ihr Bildungshintergrund in Ihre Arbeit ein?
F : Kunst in der DDR war selten bedeutungslos. Sie war ein Statement, oft eine als Kunst getarnte Nachrichtenübermittlung für widerständige Meinungen. Diese Doppelbödigkeit, aufgeladen mit versteckten Inhalten und Metaebenen, prägt bis heute meine Arbeit als Künstler. Andererseits gab es auch handfeste Einflüsse. Ich begann als Werkzeugmacher in der Dresdner Fotoapparate-Industrie. Ingeniosität und technische Präzision finden sich seither in meinen Werken immer wieder. Von hier ist es nicht weit zu den leichtgewichtigen Aluminiumstrukturen von Zeppelin-Luftschiffen, die ich schon als Kind bewunderte. Sie wurden zu einer weiteren wichtigen Einflussgröße auf mein künstlerisches Schaffen. Ihre Aluminium-Gerippe in Leichtbauweise nahmen die Idee von ‚Volumen statt Masse‘ und ‚weniger ist mehr‘ dem Bauhaus-Modernismus vorweg. Wie Sinnbilder des künstlerischen Schöpfungsprozesses an sich oszillieren sie zwischen rauschhaftem Erfolg und grandiosem Scheitern auf allerhöchstem Niveau. Bis heute werden Zeppeline subjektiviert und verklärt betrachtet. In der Plastik 30 Sekunden habe ich dieses Thema direkt verarbeitet. Für die künstlerischen Grundlagen und Techniken sowie das akademische Kunststudium war das Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle maßgebend; für die Kunsttheorie und den intellektuellen Einfluss war die École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris prägend und dort besonders meine Professoren Christian Boltanski und Tony Brown. Studierende aus aller Welt machten Paris zu einem Schmelztiegel der Kreativität und schufen eine für mich sehr inspirierende Atmosphäre. Diese Mischung empfinde ich im Nachhinein als ein großes Glück.
L : Die Architektur ist ein wesentlicher Faktor in Ihrer Forschung und Bestandteil Ihrer künstlerischen Arbeit. Warum ist das so?
F : Als Sohn eines Architekten wurde mir das wohl in die Wiege gelegt. Inspirationen für ein neues, ortsspezifisches Werk schöpfen sich aus dem Ort selbst, seinen Gegebenheiten, seinen Möglichkeiten, aber auch seinen Grenzen. Das Hineinspüren in Orte und Räume, ob innen oder außen, ist dabei Voraussetzung. Ein räumlicher Bezug, eine stimmige Einbindung und Raumgreifung sind mir sehr wichtig. Im besten Fall gelingen Gesamtkunstwerke. Dann erscheint die Architektur wie für das Kunstwerk geschaffen und nicht umgekehrt. Als Beispiel sei hier die Spektralsymphonie der Elemente genannt. Diese Installation entstand für einen bis dahin unglücklich langen, schwarzgrauen Schacht, der sich aus den baulichen Änderungen eines zweiten Bauabschnitts ergab. Für mein Werk aber war er ein Glücksfall, bei dem die Elemente buchstäblich zusammenfinden. Im Neubau der Potsdamer Restaurierungswerkstätten der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten etwa inszenierte ich in den Treppenhäusern freigelegte Farbfassungen, die dort natürlich nie vorhanden waren. Sie laden diese Räume mit Geschichte auf und verleihen ihnen eine besondere Aura. Diese Installation Freilegungen kritisiert aber auch ganz allgemein den ‚originalgetreuen‘ Nachbau verlorener Architekturdenkmale und stellt die in der Kunst sehr wichtige Frage: Original oder Fälschung? Architektur und Baugeschichte an sich sind auch Themen meiner Recherchen, wie folgendes Beispiel zeigt: Das anfangs nebensächliche Interesse an der unzeitgemäßen Stromlinienform der Dresdner Luftschiffhalle von 1913 wuchs sich immer mehr aus. Es wurde zu einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit mit transatlantischer Recherche, die mich über Jahre beschäftigte, um dann ungeplant, aber folgerichtig in einer Promotion zu gipfeln. Sie erschien als Verlagspublikation1, gefolgt von einer Ausstellung und einer Videoarbeit. Die Frage, ob das jetzt noch Kunst ist, war mir dabei egal. Generell ist Geschichte eine Riesen-Inspirationsquelle für meine Arbeit. Damit ist bewusst nicht nur die Kunstgeschichte gemeint.
L : Einige Ihrer Kunstwerke sind buchstäblich in Bewegung und technisch ausgefeilt. Können Sie diesen Aspekt näher erläutern?
F : Der technische Aspekt war schon immer Teil meiner Werke. Kinetische Kunstwerke sind nicht tot, sie sind zeitbasiert, mobil, variabel, flexibel, reaktiv – sie sind lebendige, launige Schöpfungen. In meinen Arbeiten setze ich Bewegung sehr sparsam ein oder mache sie erst sichtbar. Bei Stardust Trap werden die tanzenden Bewegungen der Staubpartikel in der Luft, die sonst unsichtbar sind, durch Laserlicht sichtbar gemacht. Bei Universitas ist sie fast an der Wahrnehmungsgrenze langsam oder bei Conflux in Malmö erscheint sie überraschend mit großen Pausen. Ich nutze Bewegung als Ausdrucksmittel, um auch mental etwas in Bewegung zu bringen, um den sprichwörtlichen Stein ins Rollen zu bringen. Die Bewegung des Kunstwerkes überträgt sich auf die Betrachtenden, gibt Denkanstöße, schafft Flexibilität und hilft bestenfalls dabei, festgelegte Überzeugungen zu bewegen, aufzulösen und neu zu interpretieren. Zugute kommt mir dabei unser urzeitlicher Reflex als Jäger und Gejagte, mit einer animalischen Aufmerksamkeitspräferenz für alles Bewegliche.
Aber es gibt auch den umgekehrten Fall. In der kinematographischen Skulptur 30 Sekunden und der Installation Treibender Rhythmus friere ich Bewegung ein, zerlege sie in Einzelbilder, die simultan sichtbar sind. Diese Form der Bewegungsanalyse schafft verblüffende plastische Ergebnisse.
L : Ihre Arbeiten sind oft spielerisch und beinhalten Rätsel, optische Täuschungen und Wahrnehmungsirritationen. Warum ist das Spielerische ein so zentraler Aspekt in Ihrer Arbeit?
F : Meine Werke sollen Fragen aufwerfen statt Antworten vorzugeben. Wie könnte das besser gelingen als mittels Absurdität und einem Vexierspiel aus Form und Inhalt? Werden die Sehgewohnheiten ausgehebelt, etwa durch den optischen Trick einer Anamorphose bei Rœhren:der Hirsch, dann müssen die Betrachtenden ihre Komfortzone verlassen und den einzigen Standort zur Bildauflösung suchen. Nichts ist mehr, wie es scheint. Sie verlieren buchstäblich den Boden unter den Füßen, wie etwa bei meinem Seasickness Simulator. Bei dieser für eine Ausstellung auf einem Schiff entstandenen Installation wurde im Stillstand des Lockdowns dennoch ein Reisegefühl simuliert.
Durch spielerische Herangehensweisen und aktive Einbindung verändert sich die Selbstwahrnehmung, man wird neugierig und öffnet sich. Die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk ist dann eine viel intensivere. Humor hilft auch dabei, die Zuschauer zu erreichen, sie emotional zu berühren.
L : Ironie und Absurdität tauchen in Ihrem Werk immer wieder auf. Was können Sie damit zum Ausdruck bringen?
F : Der Mensch ist das Resultat von Kopierfehlern der Evolution. Zur Weiterentwicklung braucht es das Absurde, es braucht Mutanten, Fehler und falsche Verdrahtungen. Nur so entsteht Neues. So wurden viele wissenschaftliche Entdeckungen gemacht, und so entstehen auch viele meiner Kunstwerke. Ironie ist eine ähnlich paradoxe Konstellation, um die Welt mit anderen Augen zu sehen. In meiner Fotoserie Lapsus linguae ist nur ein einziger Buchstabe ‚falsch‘ und dennoch verändert er alles.
Einen großen Einfluss hatte da der bereits erwähnte Christian Boltanski auf mich. Er stellte sich sehr ernsten Themen und tat dies doch mit einem gewissen Schalk. „Absurdité“ war eines seiner Lieblingsworte. Noch aus meiner Pariser Zeit rührt mein Interesse für Jean Baudrillard und seine ‚Präzession der Simulakra‘ 2: Die Simulation bezieht sich dabei nicht mehr auf die Realität, sondern auf das Hyperreale, die Vorwegnahme einer möglichen Realität, die so nie existiert hat; also gewissermaßen eine ironische Version von Realität. Davon inspiriert ist eine ganze Werkgruppe, etwa der Stausimulator Stausi 1, der Produktivitätssimulator Prodsim und der bereits erwähnte Seasickness Simulator.
L : Ihre Kunst lässt sich nicht auf ein einziges Medium, Material oder eine Form reduzieren. Wie spiegelt diese kreative Vielseitigkeit Ihre Vision als Künstler wider?
F : Meine Arbeit ist zwischen Naturwissenschaft, Technik, Philosophie und Kunst angesiedelt. Die Einflüsse kommen aus verschiedenen Richtungen, aber weniger aus der Kunstwelt selbst. Manchmal taucht sofort eine neue Idee auf und manchmal ist es ein sehr langer Prozess. Bei neuen Projekten beginne ich oft zuerst mit dem Schreiben des Konzepts, den Recherchen und dann erst mit Skizzen. Manchmal sind zunächst praktische Tests und Experimente erforderlich, um zu prüfen, ob die Idee überhaupt realisierbar ist. Die Konstruktion erfolgt dann am Computer. Dabei werden je nach Arbeitsgebiet beratende Ingenieure, Wissenschaftler und Experten eingebunden. Die Modelle, Prototypen und Mock-ups mache ich zumeist selbst. Die Ausführung verteile ich an Fachfirmen, behalte aber das Zepter in der Hand.
Freiheit zur Vielseitigkeit ist meine Arbeitsbedingung. In der Berufung zum bildenden Künstler sehe ich vor allem eine Chance zur ständigen Innovation. Im Schaffensspektrum muss Platz sein für neue Forschungs- und Interessengebiete, gerne auch außerhalb der ausgetretenen Pfade der Kunst. Diese Grenzverwischung erweitert den Zugang und gibt dem Publikum mehr Interpretationsspielraum.
Einen großen Stellenwert hat für mich die Natur mit ihrem Mikro- und Makrokosmos als unerschöpfliche Inspirationsquelle an Formen, Farben und Geräuschen. Diese über Jahrmillionen entstandenen Ideallösungen der Natur sind zeitlos schön und können nicht veralten. Ich versuche sie ins Bewusstsein zu holen und anderen ihren Wert zu vermitteln. Ich sehe mich als Flaneur mit wachem Auge und offen für neue Einflüsse. In meinen Arbeiten geht es nicht vordergründig um Wiedererkennbarkeit oder Stil, den Kriterien des Kunstmarkts. Von Max Liebermann ist der freche Satz überliefert: „Stil fängt da an, wo die Begabung aufhört.“
L : Humor und Sarkasmus, Frechheit und Kritik, Kontemplation und Empathie. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Kunst in unserer Gesellschaft?
F : Kunst hat das visionäre Potenzial, den Zeitgeist zu beeinflussen; sie konfrontiert, widerlegt und kann damit auch Gesellschaftsveränderungen anstoßen. Die großen Themen unserer krisenbehafteten Zeit wie Klima, Umwelt, Artensterben, Ressourcenknappheit, Krieg und Migration beeinflussen natürlich auch meine Arbeit als Künstler. Ausgrenzung ist Thema der mobilen Installation Fortification. Die thermokinetische Installation Thermochromatrix macht deutlich, welche großen Wirkungen wenige Grad Temperaturunterschied haben können. Die Installation Ornisonorium macht das Artensterben und Verschwinden der Singvögel dadurch sichtbar, dass sie durch sound-mechanische Roboter ersetzt werden. Nachhaltige Energie wird in zahlreichen meiner Arbeiten genutzt und thematisiert. Die Installationen Universitas und In omnes partes nutzen Sonnenenergie. In den Dynamographien sind die Fotos nur dann sichtbar, wenn die Betrachtenden mittels Kurbelinduktoren „grüne“ Elektroenergie und damit Licht erzeugen.
L : Das Thema Nachhaltigkeit durchdringt inzwischen alle Lebensbereiche. Wie stehen Sie als Künstler dazu?
F : Noch bevor Nachhaltigkeit zum Modebegriff wurde, waren wir Künstler mit Ressourcenknappheit längst vertraut. Viele meiner künstlerischen Arbeiten bestehen aus recycelten Komponenten und Upcycling geborgener Materialien. In meinem Atelier lagern elektromechanische Teile längst verschrotteter Geräte. Ich verwende sie für Prototypen, für Modelle, aber auch für fertige Arbeiten. Zugleich ist ihre ingeniöse Perfektion oft eine große Inspirationsquelle. Entwürfe für neue Arbeiten versuche ich so materialökonomisch als möglich zu planen. Die Materialien meiner permanenten Arbeiten werden sorgfältig nach Umweltkriterien und Langlebigkeit ausgewählt. Unterstützt werde ich dabei von meiner Lebenspartnerin, die im Bereich Circular Economy arbeitet. Diese Kriterien sind inzwischen auch feste Vorgaben für Kunst im öffentlichen Raum. Konstruktiv strebe ich immer wartungsfreundliche Lösungen an. Kunst am Bau ist ja idealerweise für eine zeitlich unbegrenzte Lebensdauer ausgelegt und somit nachhaltiger als etwa temporäre Installationen und Ausstellungen, die ständig mit hohem Transportaufwand und Müllaufkommen verbunden sind.
Den Begriff ‚zeitgenössische Kunst‘ nehmen wir so hin und merken gar nicht, dass ihm ein Verfallsdatum eingeschrieben ist: Diese Kunst muss zwangsläufig aus der Mode kommen. Dem versuche ich mich bewusst zu entziehen. Meine Arbeiten folgen keinen Zeitströmungen, sie sind allgemeingültig und auch an ein Publikum der Zukunft gerichtet. Das ist die inhaltliche Form von Nachhaltigkeit.
Hierzu sei auf das Langzeit-Foto-Video-Projekt zu den Palombières in Südwestfrankreich verwiesen. Sie zeigen, dass aus recyceltem Material turmhohe Behausungen mitsamt Fahrstühlen gebaut werden können. Ich beobachte diese Baugebilde nun schon über zehn Jahre, und sie sind erstaunlich resilient.
L : Was sehen Sie vor diesem Hintergrund als Ihre Hauptaufgabe als Künstler?
F : Als Künstler wird man oft auch als Seismograf der Gesellschaft gesehen. Die Landschaftsinstallation Zusammenhalt im Innenministerium sollte den Regierungsbeamten das gesellschaftliche Auseinanderdriften vor Augen führen. Im Jahr darauf war Der Zusammenhalt der Gesellschaft dann das zentrale Motiv der offiziellen Regierungserklärung. Leider geht die soziale Schere trotzdem unvermindert weiter auseinander.
Ganz aktuell bietet das Mahnmal Einschlüsse gegen die politisch motivierten Unrechtsurteile der Nachkriegs- und DDR-Zeit den willkürlich Verurteilten und Hingerichteten eine Plattform für ihre Anklage und ihren Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit. Dabei habe ich besonders den menschlichen Aspekt herausgearbeitet, der zeitlos gültig und gerade jetzt wieder schmerzhaft aktuell ist. Als Künstler habe ich mich hierbei ganz zurückgenommen und lediglich recherchiert, ausgewählt und positioniert. Ich halte nur das Brennglas über die Geschichte. In dieser Vermittlerrolle des Aufzeigens, Weitergebens und Sichtbarmachens, natürlich transformiert durch meine subjektive Sichtweise, sehe ich auch meine Aufgabe als Künstler.
Anmerkungen
1 Roland Fuhrmann, Dresdens Tor zum Himmel – Die erste aerodynamisch geformte Luftschiffhalle und ihr Einfluss auf die Baugeschichte (Dresden, Thelem, 2019).
2 Jean Baudrillard, Simulacres et Simulation (Paris, Éditions Galilée, 1981).