1 Roland Fuhrmann » Dr. Martin Seidel: Kunst und die Logik der Dinge – Zum Werk von Roland Fuhrmann

Dr. Martin Seidel

Kunst und die Logik der Dinge –
Zum Werk von Roland Fuhrmann

confluence  Kehrer Verlag Heidelberg
ISBN 978-3-96900-119-6
2023

 

„Akribie und Anmut
‚Spektralsymphonie der Elemente‘ (Verweis) ist eine wunderbare Raumkunst im Atrium der Chemischen Institute der TU Dresden. Die schlanke Eleganz der herabhängenden Glasröhren korrespondiert mit der Anmut der Farbverläufe, die ihrerseits mit akribischer Systematik den chemischen Elementen zugeordnet sind. Diesem Werk fröhlicher Kunst und Wissenschaft strömte – bis hin zur Internetseite der Tagesschau – gleich nach seiner Fertigstellung im Jahr 2010 eine große Sympathiewelle entgegen.
Formvollendung und Experimentierfreude neben Freundlichkeit, Offenheit und Zugänglichkeit sind keine selbstverständlichen Attribute der zeitgenössischen Kunst. Aber sie sind bezeichnend für viele Werke von Roland Fuhrmann, der für architekturbezogene Kunst ein Spezialist und darin einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart ist. Als bildender Künstler verfügt Fuhrmann natürlich über ein besonderes Maß an Phantasie, Gestaltungs- und Einfühlungsvermögen. Er ist, dies spiegelt sein gesamtes Werk deutlich wider, aber auch Tüftler, Konstrukteur und darüber hinaus Wissenschaftler, der eine viel beachtete baugeschichtliche Dissertation zu aerodynamisch geformten Luftschiffhallen vorgelegt hat.

Solcher Doppelbegabung und Interessenvielfalt verdanken sich Installationen wie die Spektralsymphonie in Dresden oder eine lichtschöne Deckengestaltung im Europäischen Patentamt in Berlin (Verweis), in der dichroitische Glastafeln auf unterschiedliche Temperaturen und Lichtsituationen mit wechselnden Farben und Bewegungen reagieren. Im Luftraum des Atriums eines Gymnasiums im schwäbischen Schorndorf versetzt Licht solarbetriebene Module von horizontal ausbalancierten farbigen Aluminiumstäben mit Motor-Propellern in unregelmäßige Bewegungen (Verweis). Sich nie erschöpfende Konstellationen bilden dort federleichte Raumzeichnungen, die dem Werk dauerhafte Aufmerksamkeit sichern. Auch hier spielen Anmut, technische Perfektion und Einfallsreichtum bravourös zusammen, dezent durchdrungen von der Idee ortsspezifischer Kunst – denn Schorndorf ist die Geburtsstadt des Ingenieurs, Konstrukteurs und Erfinders Gottfried Daimler.

Vielfalt in der Vielfalt
Architekturbezogene Installationen sind Fuhrmanns Markenzeichen. Diese Kunst-am-Bau-Werke begegnen in vielerlei Gestalt an vielen prominenten Standorten in Deutschland und im Ausland. Fuhrmann ist aber Bildhauer, Installations-, Objekt-, Video- und Fotokünstler, dessen Werke auch ohne Auftrag entstehen und sich in Sammlungen, Museen und Ausstellungen finden. Zweidimensionalität ist seinem Œuvre so vertraut wie Dreidimensionalität; das kleine Format berherrscht es wie das große, und leise Zwischentöne sind genau so zu vernehmen wie laute Alarmsignale. In der Vielfalt und dem Wandlungsreichtum der Gattungen und künstlerischen Medien, der Ausstellungs- und Präsentationskonzepte sowie der künstlerischen Haltungen spielt Fuhrmann auf gleichbleibend hohem Niveau alle Möglichkeiten und Facetten von Ästhetik, Poesie, Dokumentarismus, zeitgeschichtlichem Kommentar und Engagement durch.

Bewegung und Beweglichkeit definieren sich bei Fuhrmann nicht nur als Fähigkeit, mit der Vielfalt künstlerischer Medien und Ausdrucksmöglichkeiten erfindungsreich und souverän umzugehen. Bewegung ist auch eine Ausdruckskonstante seines Werkes, die sowohl die dargestellte Bewegung als auch die tatsächliche kinetische Bewegung von Kunst im Medium Video oder in der Inszenierung bezeichnet und sich in mechanischen, elektrischen oder natürlichen wind- oder sonnenenergetischen Spielarten, Möglichkeiten und Intentionen manifestiert.

Die Bewegungsfolgen des Ausdruckstanzes von Gret Palucca, die schon Wassily Kandinsky zu den Abstraktionen seiner „Analytischen Zeichnungen“ inspirierten, übersetzt Fuhrmann bald hundert Jahre später für die Kunst am Bau der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden in eine neon-orange leuchtende dynamische Struktur, die den modernen Erweiterungsbau der Hochschule rhythmisch beseelt (Verweis). Andere Arbeiten leben nicht von dargestellter, sondern von physisch-realer Bewegung. Zwölf Edelstahlkugeln in einem 17 Meter langen Wasserbecken im Innenhof der Stadtwerke Halle ziehen als programmgesteuerte Regentropfen ihre Kreise – und strahlen gerade in der Bewegung Ruhe aus (Verweis).

Ästhetik und Engagement
Bei Fuhrmann gehen semantische Bedeutungen und kognitive Sinnhaftigkeit einher mit einer höchst elaborierten Bildsprache und mit visueller und konzeptueller Schönheit, Harmonik und Brillanz. Das schließt die analytische Betrachtung und Bewertung der Dinge und der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht aus.

Eine frühere mobile Installation (Verweis) ordnet sechs Förderbänder im Kreis an und bringt auf ihnen Münzgeld in rasselnd-tösenden Umlauf. Diese reibungslose kausal-konsekutive Funktionsästhetik manövriert sich in einen unentrinnbaren Leerlauf, der als Kunst durchaus gefällt und unterhaltsam, gleichzeitig aber auch ein kapitalkritisches Symbol und Ausdruck der unausweichlichen Stupidität vieler sozialer, ökonomischer und politischer Mechanismen ist.

Das Gegenteil von Schönheit – das vermittelt Fuhrmanns Oeuvre immer wieder sehr prägnant – sind sinnloses Formgeplänkel und ästhetische Scheingefechte. Mit ungebremstem Ästhetizismus lassen sich jedenfalls sehr gut auch Dystopien und Parabeln unnahbarer totalitärer Systeme und Systematiken inszenieren. Auch dies arbeitet Fuhrmann auf faszinierende Weise heraus. So besticht die perfide Perfektion eines Objekts aus rotierendem Stacheldraht, Panzerketten und Alarmsensoren. Es stellt eine Art Sicherheitssystem dar, welches erkennbar aber nichts schützt und niemandem nützt (Verweis) und gerade in dieser Abgründigkeit künstlerische Wirkung erzielt.

An Skepsis und Kritik mangelt es Fuhrmann zu keiner Zeit. In einer mehrfach aufgeführten Klanginstallation simulieren programmgesteuerte Hammerschläge auf gusseiserne Handräder emsige Werktätigkeit (Verweis). Der Name „Prodsim – Produktivitätssimulator“ aber lässt keinen Zweifel: Das Hämmern bringt nichts hervor außer Klang und Illusion. Das liest sich nicht nur als – vielleicht biographisch begründete – Abrechnung mit der Phrase der DDR-Arbeiterstaatlichkeit, unter der der 1966 in Dresden geborene Fuhrmann aufwuchs. Der künstlerische Gehalt dieses avanciert-euphonischen Glockenspiels geht über das zeitgeschichtliche Moment hinaus und lässt sich als universelle Chiffre des Da- und Tätigseins lesen. Man mag an Albert Camus’ Sisyphos-Essay denken und die nüchtern-abgeklärte Erkenntnis philosophischer Absurdität. Dabei bleibt Fuhrmanns Kunst eines immer fremd: Das ist die Expressivität als Selbstausdruck des Künstler-Egos. Schwarzmalerei und Pessimismus sind seine Sache sowenig wie Heilsbotschaften, Trostversprechungen und ausgeworfene Rettungsringe: Wo bei den Menschen und der Gesellschaft Vernunft, Einsicht, Gefühl und Intuition nicht vorhanden sind, helfen – so die Lesart vieler Werke – Ideologien, Metaphysik, Religion und auch die Kunst nicht weiter. So bleibt es bei der künstlerisch vermittelten Einsicht in die Unabwendbarkeit der Dinge, Ereignisse und Umstände, ob sie gefallen und behagen oder nicht.

Das gilt dann auch für die LED-Filmloopmaschinen mit Soldatenfiguren (Verweis), die Fuhrmann als entseelte Marionetten der verschiedenen deutschen politischen Systeme seit 1871 im strammen Gleichschritt und blinden Gehorsam unter dem rotierenden Text der jeweiligen Fahneneide unaufhörlich im Kreis marschieren lässt. Die an den Texten und der Ausrüstung der Soldaten ablesbare Geschichtlichkeit ändert nichts am bleibenden Wesen von Macht und militärischem Gehorsam.

Ernst, Engagement, Witz, Ironie und Travestie schließen sich nicht aus. Fuhrmann widmet sich der Conditio humana in allen Nuancierungen von leiser Poesie, schriller Satire und wachrüttelndem Appell. Verbunden mit dramatischen Explosionsgeräuschen und Maschinengewehrsalven aktualisiert er in den Animationen eines preisgekrönten Videos (Verweis) die bis heute sichtbaren Einschusskrater an Berliner Gebäuden. Mit historischen Kerkertüren als Spolien der DDR-Diktatur schafft er am Berliner Roedeliusplatz ein Memorial für die Opfer der Gerichtsbarkeit der Sowjetischen Militäradministration der ersten Nachkriegsjahre sowie der DDR-Justiz (Verweis). Gleichzeitig kann eine schwarzhumorige Video-Arbeit entstehen, die im galligen Staccato Tiere präsentiert, die auf der Straße verkehrsmäßig zu Tode gekommen sind – darunter ein Rothuhn, das vor unseren Augen nun verzehrsmäßig zu einer Delikatesse aufbereitet, angerichtet und sogar verspeist wird (Verweis).

Damit schließt sich nicht der Ring um Fuhrmanns Œuvre. Interventionistische Sprachspiele in Form von digitalen Retuschen in Fotos, die aus „Spätkauf“ einen „Spätsauf“ machen oder aus einem „Bestattungs-“ ein „Begattungsinstitut“, gehören ebenso dazu (Verweis). Zieht man an der Schnur eines Auflagenobjekts mit dem desavouierenden Titel „Großer Hampelmann“, spreizt der deutsche Bundesadler unwillkürlich sein metallisches Gefieder (Verweis). Das nun wirkt wie eine neofuturistisch-postdadaistische Verballhornung des omnipräsenten Hoheitszeichens. Dabei verbinden sich, wie so oft bei Fuhrmann, Witz und eine gewisse Angriffslust mit einer akkuraten Gestaltungslogik und dem Interesse an Konstrukten im Grenzbereich von Kunst, Natur und Technik.

Experiment, Erkenntnis und Empathie
Mit seinen Werken durchbricht Fuhrmann kategoriale Festlegungen der Kunst auf Themen, Medien, Ausdrucks- und Präsentationsformen. Er ist offen für elitäre, aber auch für populäre Ästhetiken, Denkmuster und Vermittlungsstrukturen. Ganz wesentlich hat seine Kunst mit sehendem Erleben und dem Augensinn zu tun. Sie schafft optische Zwischenzustände und Situationen instabiler Wahrnehmung. Eine seiner Spezialitäten sind anamorphotische Installationen. Im Außenbereich des Bundesinnenministeriums in Berlin addieren sich Stelen, die für sich betrachtet ausschließlich horizontal geschichtete Farbfelder erkennen lassen, von einem bestimmten Standpunkt aus zum Pigmentdruck eines Fotos einer Menschengruppe (Verweis). Das schöne Spiel der Formen und Farben verbindet sich mit der an die deutschen Innenpolitikerinnen und -poliker gerichteten Botschaft, den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. An einem Institut für Katalyseforschung der TU München sind es im Außenbereich Stelen und im Innenbereich von der Decke herabhängende Glasrohre, die zunächst nur als charmante gegenstandslose Strukturelemente in Erscheinung treten, dann aber auch als Kontur eines Adlers und eines Hirschs (Verweis). Die aus der Abstraktheit der Werke unvermutet auftauchenden gegenständlichen Motive stehen in keinem illustrativen, eher in einem disruptiven, irritierenden und hintersinnige Assoziationen in Gang setzenden Verhältnis zur Nutzung des Gebäudes. Dabei stellt Fuhrmann mit der zwischen Analyse und Synthese angesiedelten künstlerischen Anamorphosetechnik aber sehr bewusst eine visuelle Analogie zu allgemeinen und spezieller zu wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen her, die auch die Grundlage der Katalyseforschung bilden.

Seit jeher operiert Fuhrmann mit optischen Techniken, Methoden und Präsentationsformen wie Chronofotografien oder Dynamografien, die auf eine lange, manchmal noch über die Bewegungsfotos des britischen Fotopioniers Eadweard Muybridge (1830-1904) hinausgehende Entwicklungsgeschichte zurückblicken. In der offenkundigen Historizität zeugen sie zum einen von kultur- und technikgeschichtlichen Faibles und spielen nostalgisch-sentimentale Qualitäten aus (Verweis „Fest der Schönheit“). Zum anderen verringert die Stereoskopie von Porträts (Verweis) oder etwa von Nachtaufnahmen der Obdachlosenbehausungen in Paris die üblicherweise zwischen Bildern und deren Betrachtern bestehende Distanz (Verweis).

Die Kunst selbst und ihre Geschichte setzt Fuhrmann Experimenten aus. Marcel Duchamps bärtige Mona Lisa verliert in der elektrischen Rotation ihre Semantik und jeden mimetischen Bezug. Nur für den Bruchteil einer Sekunde flasht nach einem Knopfdruck das Urbild auf (Verweis). Ansonsten verbleibt die Emanation der Farbe als physikalische Quintessenz der Kunst – wie übrigens ähnlich bei der von sich aus bereits konzentrischen Farbfeldmalerei eines Kenneth Noland (1924-2010), die Fuhrmann, vermutlich nicht ganz frei von Ironie, nochmals in Kreisbewegung versetzt (Verweis).

Von sehr ausgeprägten optischen Effekten früherer Werke entwickeln sich Fuhrmanns Fotoarbeiten hin zu vielteiligen wand- und raumfüllenden Installationen. Ein Tableau zeigt 45 Fotos der urwüchsig-anarchischen französischen Palombière-Jagdhütten als Ausdruck verschütteter Freiheitsbedürfnisse, des sozialen Miteinanders, aber auch des trickreich-hinterhältigen Jagens von Tauben (Verweis). Dreitausend historische Aufnahmen von Zeppelinen mutieren mit humorvollem Verweis auf Sigmar Polkes berühmtes Gemälde zu „Hoeheren Wesen“ (Verweis). In beiden und vielen anderen Fällen finden sich Kunst, Kauzigkeit, Fiktion und Dokumentarismus auf engstem Raum beieinander. Auch hier generieren die Vielzahl und die Redundanz der Bilder keine Erzählung, sondern eine Struktur serieller Variationen, die das Narrativ ersetzen. An der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft zerlegt Fuhrmann zum Beispiel seine eigene wissenschaftliche Publikation zur Baugeschichte der städtischen Dresdner Luftschiffhalle in ihre einzelnen Seiten und bringt diese dann als einnehmendes minimalistisches Relief und wie ein sich immer wieder selbst aufladendes energetisches Kraftfeld an die Wand (Verweis).

Kunst, Ästhetik, Leben, Natur, Wissenschaft und Technik sind bei Roland Fuhrmann nicht Gegenstücke und Widersacher. Sie ergeben sich jeweils aus dem anderen, aus der Logik der Dinge und der Themen. Diese alte avantgardistische Überzeugung manifestiert und symbolisiert jedes einzelne Werk in Fuhrmanns reichem Œuvre, das mit diesem längst überfälligen Werkverzeichnis jetzt auch in Buchform zugänglich wird.“ Dr. Martin Seidel